Wahlrechts-Debatte: Vertrauliche Runde mit Bundestagspräsident Schäuble muss „Quadratur des Kreises“ lösen.
Foto - Ricardo Gomez Angel
Die dramatischen Bewegungen bei den Wahlergebnissen der letzten Zeit wirken sich auch auf die Wahlrechts-Debatte aus. Verluste für die (Volks-) Parteien CDU, CSU und SPD und starke Gewinne für die Grünen und die AfD, werden die Anzahl der Überhang- und Ausgleichsmandate bei den nächsten Bundeswahlen erheblich anschwellen lassen. Als sich der Bundestag vor einem Jahr konstituierte, war er mit 709 Abgeordnete (MdB`s) der größte aller Zeiten – mit 111 Mandaten über der gesetzlichen Mindestgröße von 598. Die Wahlrechtsreform von 2012 hat es möglich gemacht. Es wurde beschlossen, Überhänge durch zusätzliche Mandat auszugleichen, sodass der Parteienproproz, welcher sich aus den Zweitstimmen ergibt, sich auch in der Sitzverteilung widerspiegeln muss. Zu Beginn der neuen Legislaturperiode hat sich eine kleine Gruppe aus sieben Abgeordneten aller Bundestagsparteien unter dem Vorsitz von Wolfgang Schäuble konstituiert. Die Runde tagt vertraulich und soll Pläne erarbeiten, wonach die Bundestagsgröße nicht noch weiter ausufert und einigermaßen berechenbar bliebt. Es ist wie die „Quadratur des Kreises“, so Schäuble.
Denn die aktuellen Entwicklungen im Parteiensystem, die sich in Wahlergebnissen (und Umfragen) abbilden, könnte nach neuen Berechnungen des Wahlinformationsdienstes „election.de“, den Bundestag auf 780 Abgeordnete aufblähen („Tagesspiegel“ vom 24.10.2018), wäre am nächsten Sonntag Wahl. Und nur kleine Bewegungen kann die Zahl auch auf weit über 800 anschwellen lassen. Der Hauptgrund ist, dass nach den Sozialdemokraten nun auch CDU und CSU deutlich verlieren – die Parteien, welche bisher fast alle Direktmandate in den Wahlkreisen gewonnen haben. Die SPD kann nur noch in ihren letzten Hochburgen an der Ruhr, in Nordhessen und in Niedersachsen Direktmandate gewinnen. Für die Union sieht es trotz des Einbruchs auf unter 30 Prozent anders aus: Sie stellt nach den Berechnungen 189 der 299 Wahlkreissieger, die auf jeden Fall in den Bundestag einziehen. Und das sind einige Dutzend mehr, als CDU und CSU aufgrund ihres schwachen Zweitstimmenresultats zustünden. Also müssen diese Überhänge durch Ausgleichsmandate ausgeglichen werden.
Bei (z.B.) Neuwahlen kämen laut Matthias Moehl von „election.de“ die Grünen mit ihren derzeit etwa 18 Prozent auf immerhin 23 Direktmandate. Darunter alle vier in München, fünf in Berlin, drei in Hamburg und acht in Baden-Württemberg. Die AfD könnte in drei östlichen Ländern als stärkste Partei viele Direktmandate erobern. In Sachsen könnte sie mit allen Direktmandaten außer Leipzig-Süd rechnen, in Thüringen mit nahezu allen und auch im Osten Brandenburgs käme sie mit ihren Kandidaten direkt durch. Insgsamt wären bis zu 24 Direktmandate möglich.
Ein besonderes Problem des aktuellen Wahlsystems hat die Landtagswahl in Bayern offenbart. Wenn die CSU abstürzt, aber immer noch (fast) alle Wahlkreise gewinnt, hat das massive Folgen für das gesamte Wahlergebnis. Denn Überhänge einer Regionalpartei ziehen weitaus mehr Ausgleichsmandate nach sich als bei einer Partei, die bundesweit antritt.
Matthias Moehl von „election.de“ hat ein Ergebnis berechnet, bei dem die CSU in Bayern auf 33 Prozent kommt (ausgehend von den 37,2 Prozent bei der Landtagswahl, denn bei Bundeswahlen war sie meist schwächer), aber immer noch alle 46 Direktmandate gewinnt. Dann hätte die CSU 14 Überhangmandate, was bei insgesamt 43 weiteren Überhangmandaten für andere Parteien zu einer Bundestagsgröße von 830 Sitzen beitragen würde. Dieses „bayerische Problem“ ist ein besonderes Manko des deutschen Wahlsystems.
In der „Arbeitsgruppe Schäuble“ wird offenbar überlegt, die Zahl der Wahlkreise (derzeit 299) zu verringern – aber nicht die Zahl der MdB`s. Damit kommt es zu weniger Überhängen. Aber das „bayerische Problem“ tritt auch hier auf. Würde die Zahl der Wahlkreise auf 250 verringert werden, hätte die CSU immer noch sieben Überhangmandate und die Bundestagsgröße läge allein deswegen bei 703, statt 598. Man müsste wohl auf 200 Wahlkreise heruntergehen, um ein Parlament ohne Überhänge der CSU zu bekommen. Die Frage ist, ob die „Schäuble-Gruppe“ einen solchen Einschnitt in das Wahlsystem beschließt und ob das bei Wählern und (Basis-) Politkern gut ankommen würde. Wobei große Wahlkreise mit geringer Bevölkerung (ca. 10 Prozent) erhalten bleiben müssten.
Natürlich könnten sich die deutschen Politiker auch am Wahlsystem von Irland orientieren: an „Mehr-Abgeordneten-Wahlkreisen“. Das irische Unterhaus (Dáil Éireann), besteht zurzeit aus 166 Parlamentariern und diese vertreten die 43 Wahlkreise. Abhängig von der Größe kann jeder Wahlkreis zwischen 3 und 5 Sitzen vergeben. Aktuell kommt im Durchschnitt auf ca. 25.500 Einwohner ein Parlamentarier. Die Wahl (alle 5 Jahre) findet nach dem Prinzip der übertragbaren Einzelstimmgebung statt und die einzelnen Wahlbezirke haben jeweils mehrere Sitze zu vergeben. Nachwahlen finden in Irland statt, um frei gewordene Sitze im irischen Unterhaus neu zu vergeben. Ein Parlamentarier kann durch Tod, Rücktritt oder Ausschluss aus dem Dáil ausscheiden, so dass eine Nachwahl notwendig wird. Daher können Fraktionen innerhalb des Dáil während einer Amtszeit durchaus Sitze verlieren oder hinzugewinnen.
Die dramatischen Bewegungen im deutschen Parteisystem könnte die Schäuble-Runde unter Druck setzen. Ein zu großer bzw. aufblähter Bundestag, mit Kosten von über 1 Milliarde Euro, dafür werden immer weniger Bürger, Steuerzahler und Wähler Verständnis aufbringen. Und im Übrigen, soll die Wahlrechtsreform erst zur Bundestagswahl 2025 wirksam werden. Das deutet darauf hin, dass es vielleicht doch harte Eingriffe geben könnte. Aber, es gibt eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass Wahlrechtsänderungen nicht von denen gemacht werden sollen, die direkt davon betroffen sind. Daher also der Sprung über eine Wahl hinweg. Und danach könnten die Bürger doch noch Hoffnung schöpfen. Auch im Interesse von Politik und Demokratie.
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