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Hans-Jürgen Kupka

Politiker brauchen den oldenburgischen Mut

Wie ein gordischer Knoten zerschlagen werden kann.

Foto - wikimedia


Es gibt Situationen, da gibt es weder ein vor noch ein zurück. Dann handelt es sich in der Regel um ein kompliziertes und komplexes Themengeflecht von großer Tragweite. Politiker treten mit vielen (schönen) Worten in der Öffentlichkeit auf und organisieren unzählige Diskussionsrunden hinter verschlossenen Türen. Und während Politiker (und auch Experten) sich die Köpfe heißreden, haben die Bürger längst gemerkt, dass der „Karren“ festgefahren ist und die gewählten Volksvertreter keine Lösung anbieten können. Auf die Idee, auch mal den ausgelatschten Trampelpfad zu verlassen, um so den gordischen Knoten zu zerschlagen, kommen sie nur selten oder nie. Mit einer unhaltbaren Situation hatte auch die Stadt Oldenburg, westlich von Bremen gelegen, in den 1950er-Jahren zu kämpfen. In der Stadt war das Problem des immer größer werdenden Verkehrs im Stadtgebiet nicht mehr zu ignorieren. Der gesamte Verkehr durchquerte die Innenstadt mit ihren engen Straßen, während gleichzeitig die Bürger einen Einkaufsbummel unternahmen. Das Straßennetz war auf dem Niveau einer Kreisstadt stehengeblieben und so war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Verkehrskollaps die Stadt zum Stillstand bringen würde. Bedingt durch die Kriegsflüchtlinge, war Oldenburg „über Nacht“ zur Großstadt geworden. Hatte die Stadt 1939 nur 79.000 Einwohner, waren es 1945 schon über 94.000 und 1959 rund 123.000. Heute zählt die Stadt über 169.000 Einwohner.


Um das Verkehrsproblem grundsätzlich und nachhaltig zu lösen, ergriff die Stadtverwaltung eine Initiative – welche in den Augen von Autofahrern und Geschäftsleuten einer kommunalpolitischen Revolution gleichkam: Die Einrichtung einer Fußgängerzone. Bereits 1958 war nach jahrelangen Debatten in den Ausschüssen und Ratsfraktionen mit der Aufstellung eines Flächennutzungsplanes und mit der Verabschiedung des Generalverkehrsplanes eine Vorentscheidung für den Fußgängerbereich Innenstadt gefallen. Dafür waren umfangreiche und kostenintensive Baumaßnahmen im Straßenwesen nötig, für eine Stadt ohne nennenswerte Industrie mit geringer Steuerkraft eine enorme Herausforderung.


Und dann kam der Tag der großen Entscheidung: Der Stadtrat fasste am 13. März 1967 einen einstimmigen Beschluss, zum 1. August 1967 einen Fußgängerbereich einzurichten und 13 Hektar der Innenstadt für den Kraftfahrzeugverkehr zu sperren. Bei der Abstimmung im Rat enthielt sich lediglich ein FDP-Ratsherr. Obwohl auch er den Fußgängerbereich grundsätzlich positiv sah, trat er aber dafür ein, zunächst mit einer Übergangslösung Erfahrungen zu sammeln. Die übrigen FDP-Stadträte stimmten dem Beschluss ebenso zu wie die Fraktionen von SPD und CDU. Die Befürworter plädierten dafür, nach jahrelangen Erörterungen nun endlich den Mut zu fassen, eine Entscheidung pro Fußgängerbereich zu fällen.


Kritik am Beschluss kam vor allem von Kaufleute außerhalb der Innenstadt, die Umsatzeinbußen befürchteten. Auch das private Busunternehmen PEKOL meldete Bedenken an, wenn ihre Busse nicht mehr in das Zentrum fahren dürften. Anfangs standen auch einige Einzelhändler in der heutigen Fußgängerzone dem Konzept skeptisch gegenüber. Aber, die Ratsfraktionen hatten richtig und klug entschieden. Der Fußgängerbereich erwies sich für die Handels- und Verwaltungsstadt als ein Wirtschaftsmotor. Nach nur einem Jahr hatten die Geschäftsleute im Zentrum ihre Umsätze verdoppelt und nach einigen Jahren sogar vervierfacht. Aus ganz Nordwest-Deutschland strömten die Menschen bzw. Verbraucher in das autofreie Zentrum und die Bremer fahren noch heute zum Großeinkauf nach Oldenburg – da Bremen nur einen kleinen und unscheinbaren Fußgängerbereich anzubieten hat.


Mittlerweile ist der Fußgängerbereich das Herzstück der Stadt und hat sich zu einem Einkaufsparadies mit hoher Aufenthaltsqualität (u.a. mit Freizeit- und Kulturfesten) entwickelt, das viele Millionen Besucher jährlich zum Einkaufen nach Oldenburg anlockt. Was damals in Deutschland und Europa noch als ein Experiment bezeichnet wurde, hat sich für die Stadt und seiner Bürger als zukunftsweisend erwiesen. Oldenburg hat es in über 50 Jahren geschafft, einen großen zusammenhängenden Fußgängerbereich in einem historisch gewachsenen Stadtkern modernen Anfordernissen anzupassen und damit die Lebensqualität der Menschen auf hohem Niveau gesteigert.


Dieses Beispiel aus einer norddeutschen Großstadt zeigt in aller Deutlichkeit: Wenn Politiker den (oldenburgischen) Mut aufbringen, um ein kompliziertes und komplexes Themengeflecht grundsätzlich und nachhaltig zu lösen, kann der „Karren“ wieder flott gemacht werden. Der gordische Knoten kann zerschlagen werden, wenn Politiker oder andere Entscheidungsträger in Zusammenarbeit mit Experten, und auch Bürgern, durchdachte Konzepte entwickeln und realisieren. Ein Konzept hat aber nur Aussicht auf Erfolg, wenn dieses Probleme nachhaltig und grundsätzlich löst. Konzepte, die nichts anderes sind als Reförmchen, auch wenn sie von den Verantwortlichen in gutklingenden Worten als große Reform angepriesen werden, lösen keine Probleme. Im Gegenteil, der negative Zustand wird nur verlängert und vertieft, zum Schaden aller Beteiligten.


Der erste Schritt um ein Problem zu lösen, ist der realistische Blick auf das Problem. Die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft müssen aktiv werden, wenn ein Problem nicht mehr zu ignorieren ist (oder besser auch vorher). Und in einer derartigen Situation kann in der Regel nur ein großangelegter „Wurf“ zielführend sein, ein Problem von großer Tragweite zu lösen. Nur so kann der gordische Knoten zerschlagen werden. Politiker oder andere Entscheidungsträger brauchen daher Weitsicht, Mut, durchdachte Reform-Konzepte und müssen auch mal den ausgelatschten Trampelpfad verlassen, um den festgefahrenden „Karren“ wieder flott zu machen. Zum Vorteil aller Beteiligten und der Demokratie.

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